Der Gemeinderat der Stadt Tübingen ersucht die TüBus GmbH, zukünftig auf die Einleitung von Strafanzeigen oder Strafanträgen gemäß § 265a wegen Beförderungserschleichung zu verzichten.
Begründung des Antrags:
Die Kriminalisierung des Fahrens ohne gültigen Fahrschein betrifft insbesondere Menschen mit geringem Einkommen. Oftmals führen Armut und schwierige Lebensumstände dazu, dass Personen ohne Fahrschein fahren.
Die Strafzahlung gemäß § 265a kann oft nicht beglichen werden, was eine Ersatzfreiheitsstrafe zur Folge hat. Fahren ohne gültigen Fahrschein ist der Hauptgrund für die Verhängung solcher Ersatzfreiheitsstrafen, von denen jährlich 7.000 bis 10.000 Bürgerinnen und Bürger in Deutschland betroffen sind. Die Inhaftierung verschlimmert oft die bereits prekäre Situation und kann zu Job- und Wohnungsverlust führen.
Die Kriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein widerspricht dem Prinzip des Strafrechts, wonach Strafe nur als letztes Mittel eingesetzt werden soll. Die Verkehrsbetriebe haben unabhängig von einer strafrechtlichen Verfolgung Ansprüche auf zivilrechtlichem Weg. Ein Verzicht auf Strafanzeigen beeinträchtigt also nicht die rechtlichen Möglichkeiten der Unternehmen.
Ein Verzicht auf Strafanzeigen würde zudem die Justiz und Ermittlungsbehörden entlasten. Andere Städte wie Karlsruhe, Bremen und Düsseldorf haben bereits ähnliche Maßnahmen beschlossen.
Die Ampelkoalition in Berlin hat eine Überarbeitung des Straftatbestandes der Leistungserschleichung, § 265a StGB, in Aussicht gestellt, darunter die mögliche Herabstufung zu einer Ordnungswidrigkeit. Dadurch könnten Bußgelder verhängt werden, die in der Regel niedriger sind als Strafzahlungen und auch von finanziell weniger gut gestellten Menschen leichter aufgebracht werden können.
Prof. Dr. Thomas Fischer, Rechtsanwalt in München und Rechtswissenschaftler sowie ehemaliger Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof, äußerte sich am 23. Mai 2022 in der Legal Tribune Online zur Frage, ob das Fahren ohne gültigen Fahrschein überhaupt bestraft werden soll:
„(…) Schwarzfahren sollte nicht weiter bestraft werden. Es ist in der Substanz nur das Nichtzahlen einer Schuld. Das reicht für keine der anderen Varianten des § 265a StGB. Die geschädigten Unternehmen können sich zivilrechtlich wirksam wehren. Das Unrecht des bloßen Schwarzfahrens ohne Zugangserschleichung rechtfertigt weder eine Verfolgung als Straftat noch eine solche als Ordnungswidrigkeit. Wenn das die Rechtsprechung nicht einsieht, muss der Gesetzgeber es ihr ins Strafgesetzbuch schreiben. (…)“*
*https://www.lto.de/recht/meinung/m/eine-frage-an-thomas-fischer-schwarzfahren-weiter-bestrafen/
Auch andere Jurist:innen stellen in Frage, ob das bloße nichtbezahlen eines Fahrscheins überhaupt eine “Erschleichung” darstellt.
Nicht unproblematisch ist auch die Herkunft und die Wirkung des Paragrafen:
“Seinen Ursprung hat Paragraf 265a in der NS-Zeit, wie das Bundesjustizministerium auf Nachfrage bestätigt: Demnach habe damals der Missbrauch eines Münzfernsprechers strafrechtlich nicht verfolgt werden können, weil kein „Täuschungsadressat“ vorgelegen habe. Schließlich war der „Getäuschte“ in diesem Fall eine Maschine. Als Folge wurde 1935 Paragraf 265a erlassen. Heute betroffen von Haftstrafen durch das Erschleichen von Leistungen sind vor allem arme Menschen. Zwar werden mehrheitlich Geldstrafen erteilt mit der Möglichkeit, diese abzuarbeiten, etwa durch Sozialstunden. Das sei aber beispielsweise Obdachlosen oder Suchtkranken oftmals nicht möglich – und es komme schließlich doch zu einer Haftstrafe, einer sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe, []…”*
*https://www.hessenschau.de/wirtschaft/wenn-schwarzfahrer-im-gefaengnis-landen,schwarzfahren-gefaengnis-100.html
Besonderer Dank gilt der Fraktion “Die PARTEI-Klima-Fraktion” des Düsseldorfer Stadtrates und Die Linke in Karlsruhe, deren Antrag als maßgebliche Grundlage für diesen Antrag diente.
TÜL/Die Linke Fraktion
Die FRAKTION – PARTEI, DiB, Huhn