Prüfung von Straßennamen
Die Verwaltung prüft, ob die folgenden drei Personen würdig sind, in Tübingen mit Straßennamen geehrt zu werden: Eduard Haber, Eduard Spranger, Wilhelm Schussen. Falls die Verwaltung und der Gemeinderat die genannten Straßennamen umbenennen will, so schlagen wir folgende neuen Namen vor: Kiomars Javadi, Charlotte Pagel, Klara Pollack.
Begründung:
1. Umbenennung der Eduard-Haber-Straße in Kiomars-Javadi-Straße
Eduard Haber war ein deutscher Kolonialbeamter. U.a. als Bergbeamter beim Gouvernement Dar-es-Salam im damaligen “ Deutsch-Ostafrika” wirkte er an der Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents und der dortigen Ausbeutung der Bevölkerung mit. Im März 1933 unterzeichnete er die “Erklärung von 300 Hochschullehrern für Adolf Hitler”[1] , welche u.a. einen Wahlaufruf zugunsten der NSDAP unter dem Reichskanzler Adolf Hitler beinhaltete und in der NSDAP-Zeitung “Völkischer Beobachter” erschien.[2][3]
Bedingt durch die Tätigkeit in der Kolonialisierung Afrikas und dem Zuspruch zum Nationalsozialismus ist eine Benennung einer Tübinger Straße nach Eduard Haber nicht zu rechtfertigen. Die Straße soll daher nach Kiomars Javadi benannt werden.
Kiomars Javadi flüchtete 1986 aus dem Iran und wohnte bis zu seiner Ermordung 1987 mit seiner Frau in Tübingen. Als er am 19.08.1987 im damaligen Tübinger Supermarkt “Pfannkuch” einige Einkäufe erledigen wollte, schleppten ihn mehrere Angestellte des Supermarkts zunächst in den Keller, wo er mittels eines Gummiknüppels misshandelt wurde. Zunächst konnte er aus dem Keller des Supermarktes fliehen, wurde jedoch im Hinterhof von den Angestellten eingeholt und in einen Würgegriff genommen. Nach 4-6 Minuten verstarb Javadi, während mindestens 15 Zeugen dabei zu gesehen haben. Nach 18 Minuten traf die Polizei ein, und legte dem bereits verstorbenen Javadi Handschellen an. Unmittelbar nach dem Tod wurde offenbar eine erfundene Notwehr für die beiden Haupttäter konstruiert, wonach Kiomars beim Ladendiebstahl ertappt worden sei. Man präsentierte der Polizei einen Einkaufswagen, den das Opfer angeblich benutzt haben soll, mit Lebensmitteln, die vorgeblich gestohlen wurden. Jedoch fanden sich keine Fingerabdrücke von Kiomars Javadi auf den Lebensmitteln. Angeblich habe sich Javadi einen Einkaufswagen mit Ware voll gestopft und versucht durch die Hintertür zu fliehen. Die wahrscheinlich rassistischen Hintergründe und ein bedingter Tötungsvorsatz waren vor Gericht kein Thema. Sogar die Täter selbst sagten vor Gericht, dass es sich eigentlich gar nicht um einen Ladendiebstahl gehandelt hätte. Am 30. Juni 1988 wurde nach einem kurzen Prozess das Urteil gegen die beiden Pfannkuch-Mitarbeiter verkündet. Die beiden Täter bekamen eine Freiheitsstrafe von 18 Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.[4] [5] [6]
Durch die Umbenennung der Straße zu Ehren von Kiomars Javadi bei gleichzeitiger Aberkennung dieser gegenüber einem Befürworter der Nationalsozialismus setzt Tübingen ein klares Zeichen gegen rassistisch motivierte Gewalt.
2. Umbenennung der Eduard-Spranger-Straße in Charlotte-Pagel-Straße
Eduard Spranger war ein deutscher Philosoph, Pädagoge und Psychologe. Politisch stand Spranger der Deutschnationalen Volkspartei nahe, deren bewaffnetem Arm, dem Stahlhelm, er 1933 beitrat. Er nahm an Treffen der Hochschulgruppe des Stahlhelm sowie an Appellen in Uniform teil. Gemeinsam mit der DNVP unter Alfred Hugenberg und der NSDAP unter Adolf Hitler organisierte der Stahlhelm einen Volksentscheid gegen den Young-Plan. Der Stahlhelm gehörte 1931 zu den Gründungsorganisationen der gegen die Weimarer Republik gerichteten Harzburger Front. Er war ein Konkurrent und zugleich ein enger Bündnispartner der NS-Bewegung. Beide hatten eine breite politische und ideologische Schnittmenge. Im April 1938 initiierte Spranger, als Vorsitzender der Ortsgruppe Berlin der Goethe-Gesellschaft, den Ausschluss jüdischer Mitglieder der Ortsgruppe. Benjamin Ortmeyer, ein Erziehungswissenschaftler, der sich hauptsächlich mit der Pädagogik während des Nationalsozialismus beschäftigt, kommt in einem seiner Werke zu dem Schluss, dass Spranger zwar nicht zu 100% vom Nationalsozialismus überzeugt war, diesen jedoch “terminologisch” unterstützt hat. [7] [8] [9]
Auch sogenannten “Mitläufern” darf in einer modernen Gesellschaft keine besondere Ehre erwiesen werden. Daher soll die nach Eduard Spranger benannte Straße in Charlotte-Pagel-Straße umbenannt werden.
Charlotte Pagel wurde am 29. September 1894 als Tochter des bekannten Medizinhistorikers Julius Leopold Pagel und seiner Frau Marie, geb. Labaschin, in Berlin geboren. Da ihr jüngerer Bruder Walter 1926 in Tübingen eine Assistenzarztstelle als Prosektor am Anatomischen Institut der Universität annahm, kam Charlotte Pagel mit ihrem kranken Bruder Albert 1927 nach Tübingen; sie wohnten in der Kelternstraße 8. Charlotte Pagel versorgte und pflegte ihren Bruder, der an einer chronischen Krankheit litt. Zeitzeugen haben die Geschwister Pagel als liebenswürdige Nachbarn in Erinnerung behalten und erzählen, wie Charlotte arme Kinder in der Hölderlinschule mit Vesperbroten versorgte. Beide Geschwister wurden am 20. August 1942 in der Kelternstraße abgeholt und am 23.August von Stuttgart aus nach Theresienstadt deportiert, am 23. Januar 1943 weiter nach Auschwitz, wo sie ermordet wurden.[10]
Durch die Umbenennung der Straße setzt die Stadt Tübingen ein klares Zeichen gegen Antisemitismus.
3. Umbenennung des Wilhelm-Schussen-Weg in Clara-Pollak-Weg
Wilhelm Schussen war ein deutscher Schriftsteller. Im Oktober 1933 unterzeichnete Schussen das “Gelöbnis treuester Gefolgschaft” [11] für Adolf Hitler. Der Aufruf diente dazu, die vorbehaltlose Unterstützung der deutschen Literaten und Geistesgrößen für die äußerst radikale und nach innen wie nach außen einschneidende Politik des Reichskanzlers Adolf Hitler und seiner Regierung öffentlichkeitswirksam zu bekräftigen und dem erwartbaren „Wahlerfolg“ der Nationalsozialisten, die bereits alle anderen Parteien ausgeschaltet hatten und auf einer Einheitsliste antraten, auf diese Weise das Feld zu ebnen. Hermann Hesse machte seinem langjährigen Freund in einem an diesen gerichteten Brief vom 1. März 1946 wegen seiner Von-nichts-gewusst -Haltung schwere Vorwürfe. [12]
Auch wenn Schussen keine direkten Verbindungen zum Nationalsozialismus nachgewiesen werden können, so hat er doch seine Unterstützung zum Ausdruck gebracht und daher zumindest einen passiven Teil zur Machtergreifung der Nazis in Deutschland beigetragen. Eine Ehrung durch die Widmung einer Straße sollte einem solchen Menschen nicht zuteil werden. Der Wilhelm-Schussen-Weg sollte daher in Clara-Pollak-Weg umbenannt werden.
Clara Pollak wurde am 17. Februar 1900 als vierte von sechs Schwestern in Olnhausen an der Jagst geboren. Sie lebte von 1914 bis 1931 in Tübingen zuerst in der Rümelinstraße 2, dann nach dem Tod ihres Vaters ab 1925 in der Keplerstraße 5 zusammen mit ihrer Mutter und den Schwestern Mathilde und Selma. 1931 heiratete sie Wilhelm Dreyfuss in Karlsruhe. Mit ihm hatte sie eine Tochter, Bertha, und einen Sohn, Leo. Seit 1935 lebte bei ihnen auch ihre Mutter Pauline Pollak. Während diese zu Besuch bei ihrer anderen Tochter Mathilde in Würzburg war, wurde Clara 1940 mit ihrem Mann und den beiden Kindern in das südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert. 1942 wurden Clara und ihr Mann von Gurs weiter nach Auschwitz verschleppt. Beide wurden dort ermordet.[13]
Durch die Umbenennung geht Tübingen einen weiteren Schritt in die Richtung, gesellschaftliche Ehrungen nicht mehr den Mitläufern und passiven Unterstützern, sondern den Opfern des Nationalsozialismus zukommen zu lassen.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Erkl%C3%A4rung_von_300_Hochschullehrern_f%C3%BCr_Adolf_Hitler
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_Haber
[3] https://www.historischer-augenblick.de/kolonialwoche1928/
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Kiomars_Javadi
[5] http://unvergessen.blogsport.de/javadi-kiomars/
[6] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13526485.html
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_Spranger
[8] https://forschungsstelle.wordpress.com/2017/05/12/frankfurter-rundschau-zu-eduard-spranger-und-n ach-ihm-benannten-schulen/
[9] https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/streit-um-eduard-spranger-als-namensgeber-fuer-berufsko lleg-id212119509.html
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Stolpersteine_in_T%C3%BCbingen_Innenstadt#Charlotte_Pagel
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Gel%C3%B6bnis_treuester_Gefolgschaft
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Schussen
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Stolpersteine_in_T%C3%BCbingen_Innenstadt#Clara_Pollak,_verh._Dr eyfuss